Navigieren / suchen

Frustfaktor Langeweile – warum Azubis Herausforderungen brauchen

Langeweile in der Ausbildung
@istock | PGGutenbergUKLtd

Ein vielversprechender Start

Der siebzehnjährige Jan absolviert bei einem Versicherungsunternehmen eine Ausbildung zum Kaufmann für Versicherungen und Finanzen. Der Realschulabgänger startet gut in sein erstes Lehrjahr: Jan integriert sich problemlos in die Gruppe der insgesamt 62 Azubis und gehört wie schon zuvor in der Schule zu den Besten seines Jahrgangs. In den Fachabteilungen, in denen er eingesetzt ist, hinterlässt er anfangs einen sehr positiven Eindruck.

Teil der Ausbildung ist es, den angehenden Kaufleuten Grundlagen des betrieblichen Rechnungswesens zu vermitteln. Daher sieht Jans Versetzungsplan im zweiten Ausbildungsjahr einen vierwöchigen Einsatz in der Buchhaltung vor. Vierzehn Tage vor Beginn dieser Station meldet sich Jan beim Ausbildungsbeauftragten der Buchhaltung an. Damit sich der Ausbilder vorab ein Bild machen kann, mailt Jan ihm einen kurzen Steckbrief seiner Person und nennt zudem vier Punkte, die ihn an der Buchhaltung besonders interessieren und zu denen er sich tiefergehende Informationen erhofft.

Der erste Tag in der Abteilung beginnt mit einem Einführungsgespräch, anschließend macht Jan mit seinem Ausbilder einen Rundgang durch die Abteilung und lernt das Team kennen. Jan fühlt sich zunächst gut aufgenommen und auch die Arbeitszeiten kommen ihm entgegen. Denn die großzügige Gleitzeitregelung mit einer Kernarbeitszeit zwischen 10 und 14 Uhr gilt auch für Auszubildende. Die meisten Mitarbeiter in der Buchhaltung fangen um 6.30 Uhr an und machen um 15.30 Uhr Feierabend. Jan schließt sich diesem Rhythmus an und hat so nachmittags noch mehr Zeit für private Aktivitäten.

Verdächtige Datenbewegungen

Doch nachdem Jan zwei Wochen in der Buchhaltung ist, erhält deren Leiterin einen Anruf aus der IT-Abteilung: Es seien ungewöhnlich große Datenbewegungen auf den Arbeitsplatzrechnern der Buchhaltung registriert worden. Da die Finanz- und Versicherungsbranche auf eine mögliche Gefährdung ihrer Daten sehr sensibel reagiert, fordert die Buchhaltungsleiterin ein detailliertes Protokoll von der IT an, aus dem ersichtlich ist, auf welchen Computern diese Datenbewegungen stattfanden. Schnell wird klar, dass an den betroffenen Arbeitsplätzen und den entsprechenden Tagen immer Jan als Nutzer angemeldet war. Deshalb wird nun geprüft, auf welche Systeme Jan Zugriff hatte und wohin die Datenströme verlaufen.

Es stellt sich heraus, dass sehr wenige Daten das Unternehmen verlassen hatten, aber sehr viele in das Unternehmen gelangt waren. Anhand der Netzwerkprotokolle lässt sich erkennen, dass von den Arbeitsplätzen aus Websites aufgerufen wurden, die illegale Musikdownloads anbieten. Nun steht zweifelsfrei fest: Jan lädt während der Arbeitszeit Musik über das Firmennetzwerk herunter, und das nicht zu knapp. 20 GB Datenvolumen waren zu diesem Zeitpunkt bereits über die von ihm genutzten Firmenrechner geflossen.

Erste Impulse

Die Leiterin der Buchhaltung informiert sofort Jans Ausbildungsbeauftragen sowie die Ausbildungsleitung, die eine Abmahnung vorbereitet. In ihren Augen liegt „eine erhebliche Pflichtverletzung hinsichtlich der dem Ausbildungsunternehmen geschuldeten Arbeitsleistung“ vor, zudem ist die private Nutzung des Internets für Auszubildende während der Arbeitszeit untersagt. Auch über eine Kündigung wird nachgedacht. Da Jan schon am Ende des zweiten Ausbildungsjahrs ist und man ihm nicht seinen weiteren Berufsweg verbauen will, verwirft die Ausbildungsleitung jedoch diese Option.

Der Perspektivwechsel

Jan wird zu dem schwerwiegenden Vorfall befragt und seine Aussagen sind für die Ausbildungsleitung zunächst ernüchternd: „Die Langeweile in der Buchhaltung ist nicht zu ertragenund es gibt niemanden, der sich für uns Azubis interessiert. Die Aufgaben, die wir morgens erhalten, sind spätestens am Mittag erledigt – dann heißt es „Zeit absitzen“ und warten bis der Feierabend kommt“, beschreibt der Azubi seinen Alltag in der Abteilung.

Er berichtet, dass sich die Tätigkeiten auf das Verbuchen von Eingangsrechnungen beschränken, wobei jeder Schritt nochmals von den Mitarbeitern aus der Buchhaltung kontrolliert und freigegeben werden müsse. „Selbstständig kann man dort nicht arbeiten und es wird einem auch nichts zugetraut. Ich dachte, dass ich einfach das schnelle Netz der Firma nutzen kann, um nebenbei Musik herunterzuladen. Ich habe die Musik auf einer mitgebrachten Festplatte gespeichert und mit nach Hause genommen.“ Im Gespräch versichert Jan glaubhaft, dass er die illegal geladene Musik nur privat und nicht zu kommerziellen Zwecken genutzt habe.

Diskussionen im Ausbilderkreis

Die Reaktion im Ausbilderkreis ist sehr unterschiedlich. Einige sprechen sich für eine Kündigung aus, andere reagieren eher nachdenklich und machen sich Gedanken, wie und warum es dazu kommen konnte. Der Buchhaltung wird eine Mitverantwortung zugeschrieben, da sie es versäumt hatte, den Auszubildenden so mit Aufgaben zu versorgen, dass damit ein Arbeitstag ausgefüllt werden kann. Außerdem diskutieren die Ausbilder darüber, ob Produktivität unter diesen Bedingungen überhaupt möglich sei oder ob das Ausbildungssystem nicht komplett reformiert werden sollte.

Langeweile hat System

Dass sich Azubis, die unterbeschäftigt sind und wenig Aufmerksamkeit bekommen, Ablenkung suchen, ist nicht weiter erstaunlich, zumal sie in den meisten Fällen noch Teenager sind. Daher muss sich auch der Betrieb selbstkritisch fragen: Werden dem Auszubildenden genügend Aufgaben zugewiesen und sind sie in Art und Inhalt geeignet? Was kann der Auszubildende daraus lernen? Kann er daraus eine Motivation ziehen? Befragt man Ausbildungsbeauftragte dazu, wird oft angeführt, dass ein sechswöchiger Aufenthalt in einer Fachabteilung zu kurz sei, um dem Auszubildenden mit anspruchsvolleren Arbeiten
zu beschäftigen und dass sich die investierte Zeit nicht lohne.

Das ist ein relativ einfach zu lösendes Problem, denn: Die Einsatzdauer in den verschiedenen Stationen einer Ausbildung ist nicht gesetzlich vorgeschrieben. Was also spricht dagegen, dass z. B. ein Einsatz im Einkauf drei Monate dauert? Wenn dies dazu führt, dass ein Azubi nach entsprechender Einführung an interessanten Aufgaben arbeiten kann, ist das eine klassische Win-Win-Situation. Denn der Auszubildende erhält einen umfassenden fachlichen Einblick und hat Spaß an der Arbeit, was seine Leistung fördert. Umgekehrt entlastet er die Kollegen und trägt zum Erfolg der Abteilung bei.

Ende gut, alles gut

Und wie geht es mit Jan weiter? Er erhält für sein Fehlverhalten eine Abmahnung und muss einen Bericht darüber verfassen, was er sich von der Ausbildung erhofft und welche Erwartungen er an die Fachabteilungen hat. Dieser Aufsatz gibt einen weiteren Einblick in Jans Innenleben und trägt zu einem besseren Verständnis der Vorgesetzten für die Wünsche von jungen Menschen in der Ausbildung bei.
Nach Abschluss der Ausbildung – übrigens mit hervorragendem Ergebnis – wird Jan von der Versicherung übernommen. Und sein Ehrgeiz ist geweckt: Bereits kurz nach Ausbildungsende entscheidet er sich für ein nebenberufliches Studium, in das er seitdem eine Menge Energie steckt.

Langeweile in der Ausbildung
Bitte klicken für eine größere Darstellung.

Fazit

Wenn Auszubildende sich langweilen, darf das nicht mit mangelnder Konzentration, Motivation und Beharrlichkeit verwechselt werden. Sicherlich gibt es in jeder Ausbildung Aufgaben, die nicht hochspannend sind und daher mitunter auch als langweilig empfunden werden. Auch diese Aufgaben müssen erledigt werden. Doch wenn Langeweile strukturelle Ursachen hat, sind die Ausbilder gefragt. Denn dann sind die Auszubildenden schlicht und einfach unterfordert. Ein Unternehmen, das mit einem klugen Ausbildungsplan und durch gezielte Anleitung zu verhindern weiß, dass sich Eintönigkeit und Frustration breit machen, bekommt die Azubis, die es sich wünscht. Und nicht zuletzt: die Mitarbeiter, die es in der Zukunft haben will.

Quelle: wirAusbilder Magazin, Heft 2 2015, S. 12-14

 

 

Hinterlasse einen Kommentar

Name*

E-Mail* (wird nicht veröffentlicht)

Webseite